Ein Walserhaus, das gar keines und doch so viel mehr ist
Nadine Bantli, Sargans
Zu Besuch auf der «Ebni» im Calfeisental
Es trägt viele Namen und erzählt viele Geschichten, es ist mehrere Jahrhunderte alt und besitzt doch eine sehr moderne Komponente. Es ist ein Rückzugsort, den man gelegentlich fluchtartig verlassen muss. Und vor allem ist es Leidenschaft und Entschleunigung.
Von Weitem sieht es erst aus wie eine heimelige Alphütte, von näher betrachtet erkennt man bereits, dass es sich bei diesem Holzbau um etwas Spezielleres handeln muss. Tatsächlich: Die einen sind fest davon überzeugt, dass die Baute Teil einer ehemaligen Walsersiedlung ist. Für andere macht sie mehr den Anschein einer Villa Kunterbunt. Und Marlies und Bruno Glaus sprechen dabei vom «Ebni-Haus». Man sieht dem Ehepaar an, wie gerne sie sich beide in das Haus im Calfeisental, das nicht weit von St. Martin entfernt liegt, zurückziehen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Bei Marlies ist es die Leidenschaft: Wenn der Frühling schon lange da, gepflanzt und gesät ist und der Sommer langsam kommt, dann ruft sie ihr wunderschöner Garten, in dem frisches Gemüse und farbige Blumen um die Wette blühen. So viel, dass sich das Paar praktisch selbst versorgen kann. Bei Bruno hingegen ist es die Entschleunigung,die ihn auf die Ebni zieht, wenn er drunten im Tal zu fest auf Touren kommt oder ihn das Bedürfnis nach körperlicher Betätigung nicht mehr loslässt – daraus erwachsen sind bereits 150 Meter Trockenmauern, die Hälfte davon um das Ebni-Haus.
Der Garten und die Trockensteinmauern sind Teil der tiefen Verbundenheit, die das Ehepaar Glaus zum Haus spürt. In einem besonderen Masse, weil es ihnen gemeinsam mit der kantonalen Denkmalpflege gelungen ist, das Haus bewohnbar zu machen und zu erhalten. Der Pachtvertrag wurde nur abgeschlossen unter der Bedingung, dass Glausens das Haus im Einvernehmen mit der kantonalen Denkmalpflege restaurieren und wieder bewohnbar machen würden.
Unbegründbares Mysterium und eindeutige Details
Der Bautypus des Ebni-Hauses, ein einfacher, eingeschossiger Strickbau auf gemauertem Keller, ist eigentlich eindeutig den Walsern zuzuordnen. Beim Strickbauverfahren haben sie früher die einzelnen Balken der Häuser durch gegenseitige Einkerbungen miteinander verbunden und aufeinandergeschichtet – diese Technik ermöglichte den Walserinnen und Walsern eine solide und dauerhafte Bauweise. Allerdings hat eine dendrochronologische Untersuchung des Hauses die Bauhölzer des Grundstockes erst auf die Jahre 1686 – 1688 datiert – also nach der Zeit der Walser, ist doch die letzte Bewohnerin der Walsersiedlung St. Martin bereits 1653 gestorben. Balken im Giebel des Gebäudes wurden indes bereits 1418 geschlagen, was ein erstes Indiz für die Zweitverwendung der Bauhölzer ist.
Bruno Glaus kann die Richtigkeit dieser Baumalter-Analyse von blossem Auge bezeugen: Mit einem flüchtigen Blick ist sie zwar fast nicht zu sehen, aber bei näherem Hinsehen erkennt man die wissenschaftlich bestimmte Jahreszahl unter dem Giebel. Vor weit über dreihundert Jahren hat jemand mit viel Sorgfalt und Präzision «1688» in einen Holzbalken eingeritzt – und damals vielleicht nicht geahnt, dass dieses wohl zufällig ausgewählte Stück Holz später zu einem kleinen Mysterium werden wird.
Eher auffällig hindeuten auf die erwähnte Zweitverwendung dürfte eine tief liegende, portalähnliche Tür im heutigen Wohnzimmer. Früher ist das Portal vielleicht für Ziegen – oder für die Walser selbst? – benutzt worden. Darin eingeritzt und gut zu sehen sind Symbole, die den Laien an Hauszeichen erinnern. Wahrscheinlich hat das Portal aber an seiner jetzigen Stelle im Ebni-Haus als solches nie gedient. Viel eher liegt die Vermutung nahe, dass die gesamte Holzwand, in der es eingeschleust ist, als ganzheitliches Stück vom ursprünglichen Gebäude transferiert wurde.
Zwischen Spekulation und Schicksal
Das sind bei Weitem nicht die einzigen Geschichten, die das stille Ebni-Holz erzählt und deren Wahrheit unergründlich bleiben wird. Denn ebenfalls im Wohnzimmer, an der Decke, sind weitere Symbole, Striche und Zahlen eingeritzt. «Vielleicht hat man früher so gejasst, als es weder Schiefer und Kreide noch Papier und Kugelschreiber gab», vermutet Marlies Glaus. Sie stellt auch Spekulationen über die kahlen Wände auf der eigentlichen Sonnenseite des Hauses an, die zum Glaser- und Tristelhorn hin ausgerichtet ist: «Wahrscheinlich hat es hier keine Fenster, damit man besser vor drohenden Lawinen geschützt war.»
Angebaut an den historischen Bau ist ausserdem ein Stall – auch über ihn gehen die Meinungen auseinander. Stand er schon vor oder wurde er erst nach den Weltkriegen erbaut? Jedenfalls passt er zum Hauptteil, da er dieselbe Firstrichtung aufweist und auch gestrickt ist. Klar sagen lässt sich nur, dass er aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammt.
Unumstritten ist, dass das Ebni-Haus schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel hatte, als es Marlies und Bruno Glaus 2007 von der Ortsgemeinde Pfäfers pachten konnten. Eine glückliche Fügung des Schicksals, denn bis dahin lebten die beiden sozusagen als Nomaden im Calfeisental: Zog es sie davor in die Berge des Vättner Tals, weil Bruno im Revier Schräa auf die Jagd ging, übernachtete, ass und trank das Ehepaar mal da, mal dort – und knüpfte dabei mit vielen Einheimischen Freundschaften, die bis heute währen.
«Das legt sich wie ein Lismer um das Haus»
Die neuen Pächter trafen das Ebni-Haus, das bis 2006 noch als Käse-lager der Sennerei Ebni genutzt wurde, geradewegs verwahrlost an. Marlies Glaus sucht nach schöneren Worten, um den Zustand ihres zweiten Daheims zu beschreiben – aber die Tatsache, dass sie eigenhändig «mit dem Bieli den Chuehblutter vom Boden und den Wänden gekratzt» hat, spricht für sich. Die Wände des Wohnzimmers und der Kammer wurden von Marlies Glaus gereinigt und die undichten Fugen wie früher mit Schafwolle gestopft – «die Wolle wärmt das Haus wie ein Lismer», schwärmt sie. Von Beginn weg war ihr und ihrem Mann klar, dass sie sich hier einer zeit- und kostenaufwendigen Aufgabe angenommen hatten. Aber einer lohnenswerten, wie sich später herausstellen wird.
Bei den Arbeiten musste auf Bescheidenheit und den Erhalt der Authentizität geachtet werden. Aus denkmalpflegerischer Sicht hätte auch der angebliche Walserofen in der Stube in seinem originalen Zustand belassen werden sollen. Bruno Glaus jedoch glaubte nicht daran, dass dieser ebenfalls ein Überbleibsel der früheren Bewohner sei, und beharrte auf deren Abriss. Damit sollte er recht behalten: Während er daran war, den Ofen mit dem Presslufthammer abzubrechen, stiess er plötzlich auf Armierungseisen. Materialien, die anno dazumal mit Sicherheit noch niemandem bekannt waren. Heute sind der Ofen und die Heizwand, die vom Toggenburger Ofenbauer Paul Rutz installiert wurden, nicht nur ein wunderbarer Hauch von Nostalgie, sondern auch die so wichtige Wärmequelle und das Herzstück des Ebni Hauses.
Kochen in einem gelben Container
Wer durch die Haustüre in den Eingang tritt, macht nicht nur einen physischen, sondern auch zeitlich einen Sprung aus der Vergangenheit weit in das Jetzt: Der Blick fällt auf eine neuzeitliche Box, die einem in fröhlichen, hellen Gelb- und Grautönen gestrichenen Container gleicht. Dieser hebt sich einerseits völlig ab vom alten Bauwerk, beeinträchtigt andererseits die ursprüngliche Struktur aber auf keine Weise. Dies war die Devise der Denkmalpflege: Neues soll als Zeuge der Neuzeit erkennbar sein.
Verweilt man in der Küche und schaut aus dem Küchenfenster, das sich längs über die ganze Wand zieht, geniesst man einen aufregenden wie ebenso beruhigenden Ausblick: Man sieht tief in das Innere des Waldes, spürt fast den Wind, mit dem die Blätter gemeinsam einen zarten Tanz vollführen, und kann mit etwas Glück die Tiere beobachten, die auf Bäume huschen oder hinter Büschen verschwinden.
Der Ortsgemeinde und Glausens war es wichtig, einheimische Fachleute mit den Arbeiten zu beauftragen – der Ofenbau-Spezialist bildet die einzige Ausnahme. Das Dach ist vom Vasöner Schindelmacher Rolf Steinbacher wieder mit handgespaltenen Lärchenschindeln eingedeckt worden, die heutige Schreinerei Utzinger in Vättis hat unter anderem den gesamten Küchencontainer, Stubentisch und Bank eingebaut. Und der Valenser Maler Toni Gartmann hat das Farbkonzept umgesetzt. Marlies und Bruno Glaus haben nebst Garten und Trockensteinmauern sämtliche weiteren Umgebungsarbeiten selbst getätigt: Bodenplatten, Teiche, Holzschopf und Hecken.
Wo der Himmel die Schöpfungsgeschichte erzählt
Vollzieht man einen erneuten Perspektivenwechsel und blickt von der Waldseite an das Haus, sieht man das lange Küchenfenster von aussen – es ist die einzige baulicheVeränderung am Gebäudeäussern. Es ist eingebettet in Furchen und Risse, die sich wie Narben bei Menschen in die Holzbalken graben und den Erfahrungsschatz hüten; Holzsplitter, die sich warnend und schützend in der massiven Aussenwand verstecken; Verfärbungen, die von vielen gewonnenen Kämpfen gegen Regen und Wind zeugen. «Auch unser Ebni-Haus hat nebst seiner Sonnen- eine Schattenseite», meint Bruno Glaus mit einem Schmunzeln und geht rings ums Haus. Im Vorbeigehen hält er inne und betrachtet die Rosetten der Balken, wobei Begeisterung aufkeimt: «Diese zählen zum Schönsten, was Walserfreunde an Patina in der Schweiz vorfinden können.»
Die «Schattenseite» zeigt es: Hier oben auf der Ebni, abgeschieden von der Zivilisation, ist man den Naturgefahren ausgeliefert. Und einen heftigen Wetterumschlag ahnt man nicht immer lange voraus. Vor allem die Wassermassen bei Gewittern und die Lawinen hinterlassen nicht selten eine Flut der Zerstörung, bei der Brücken, manchmal aber auch grosse Teile von Hütten mitgerissen werden. Das Ebni-Haus liegt zwar glücklicherweise in einem geschützten Bereich, aber wenn die Tamina «so richtig rumpelt», bedeutet das für Marlies und Bruno Glaus den fluchtartigen Rückzug. Erst letzten Herbst hatten die beiden «grosses Glück, Gspüri und einen Schutzengel», dass sie noch rechtzeitig das Tal verlassen konnten.
Die letzte Geschichte, die Bruno Glaus zum Ebni-Haus erzählt, hört sich an wie eine Schöpfungsgeschichte aus der Bibel: «Im Herbst 2013 hatten wir zwei Dutzend rotarische Freunde aus Deutschland und Österreich im Calfeisental zu Gast. Der Morgen war regnerisch, wir assen dicht gedrängt Gerstensuppe in der Stube. Und dann, gegen 15 Uhr, öffnete sich plötzlich die Wolkendecke am Himmel und gab uns freien Blick auf die Alpenüberschiebung am Glaserhorn – einer von vielen dramatisch schönen Momenten auf der Ebni.»